Die zunehmende Digitalisierung der Märkte zwingt Unternehmen, ihre Reaktionsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft deutlich zu verbessern. Dies gilt insbesondere für die IT, ohne deren Unterstützung kaum noch ein Geschäftsprozess auskommt. Die klassischen Prozesse, die vor allem auf Planbarkeit, Stabilität und Risikominimierung ausgerichtet und daher relativ starr waren, müssen sich grundlegend verändern und deutlich flexibler werden. Agiles Service Management ist keine Option mehr, sondern eine absolute Notwendigkeit. Dabei ist die Transformation zum agilen (IT) Service Management am wenigsten ein technisches Problem.
"Bis 2023 werden 80 % der ITSM-Teams, die keinen agilen Ansatz gewählt haben, feststellen, dass ihre ITSM-Praktiken ignoriert oder umgangen werden, weil in anderen Bereichen der Organisation agilere Arbeitsweisen eingeführt werden." Dies schreibt Gartner in seinem Bericht "3 Steps to Agile IT Service Management" vom Mai 2020. Agilität wird also quasi zur Lebensgrundlage von ITSM-Organisationen. Doch was ist überhaupt agiles IT Service Management?
Agiles Service Management ist zunächst einmal nichts anderes als die Anwendung der agilen Denkweise auf das Service-Management im Allgemeinen und das IT Service Management (ITSM) im Besonderen. Doch für Agilität gibt es kein Handbuch, denn Agilität ist vor allem eine Mentalität. Es handelt sich primär um eine Reihe von Werten, die Organisationen helfen, flexibler zu sein. Dabei gilt es, Veränderung als Chance und als Notwendigkeit statt als Risiko zu begreifen, bürokratische und gedankliche Hindernisse abzubauen und insgesamt die Reaktionsgeschwindigkeit auf bestehende oder antizipierte Entwicklungen deutlich zu erhöhen. Agilität bedeutet also letztlich nichts weniger als einen kompletten Kulturwandel, wobei man darüber streiten kann, ob Agilität den Kulturwandel bedingt oder andersherum.
Der agile Ansatz verändert die klassischen Strukturen der gesamten IT-Organisation. So werden beispielsweise die Verantwortlichkeiten für die Architekturen, Entwicklung, Projekte, Sicherheit, Betrieb usw. enger zusammenwachsen. Die Teams sind dann nicht mehr nach reiner Fachlichkeit aufgebaut, sondern sie sind "Ende-zu-Ende" auf die Produkt- und Serviceorientierung ausgerichtet und verfügen idealerweise über sämtliche Fähigkeiten, die dafür notwendig sind. Solche agilen und selbstorganisierten Teams können allerdings nicht nach klassischen Managementmethoden wie etwa "Command & Control" geführt werden. Zur Agilität gehören daher auch die Anpassung und Weiterentwicklung der Führungsmethoden, was sich auch auf die Rolle der klassischen Führungskraft auswirkt: Verstärkt gefragt sind deren Fähigkeiten, ihre Teams zu coachen, zu befähigen, kontinuierlich zu entwickeln und zu motivieren, sowie auch die persönliche Größe, Entscheidungen zu delegieren und sich selbst immer stärker aus dem operativen Tagesgeschäft zu nehmen.
Die Cloud als Enabler
Doch wo einerseits im Kontext agiler und interdisziplinärer Teams vermehrt Insourcing zur (Rück-) Gewinnung eigener Mitarbeiter zu beobachten ist, nimmt andererseits das Outsourcing beispielsweise von Infrastruktur und Commodity-Services weiter zu. Die Adaption von Cloud-Service-Modellen ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Dynamisierung von Unternehmen, um die traditionell aufwendigen und teilweise langen Bereitstellungsprozesse für die notwendige IT-Infrastruktur zu eliminieren. Wo noch vor nicht allzu langer Zeit die Bereitstellung einer entsprechenden Entwicklungs- und Anwendungsumgebung z. T. Wochen dauerte und eine Vielzahl von Einzelanforderungen an die Infrastruktur-Teams erforderte, haben sich heute die Bedingungen durch die Nutzung von IaaS, PaaS und SaaS völlig verändert. Denn die Bereitstellung von Infrastruktur dauert durch diese Cloud-basierten Möglichkeiten heute nur noch Sekunden oder Minuten und kann von den Entwicklern selbst initiiert und automatisiert ausgeführt werden. Insofern sind Agilität und Cloud zwar zwei Entwicklungen, die ihre jeweils eigenen Entstehungsgeschichten und Visionen haben, sich aber dabei ideal ergänzen und gegenseitig stärken.
Summa summarum versteht agiles IT Service Management somit die Veränderung an sich als integralen Bestandteil des täglichen Geschäfts und hat die Aufbau- und Ablauforganisation konsequent auf Reaktionsfähigkeit und Adaption auszurichten.
Agilität heißt "alles oder nichts"
Ein bisschen schwanger geht nicht, ein bisschen agil ebenso wenig. Es reicht nicht, sich in Teilbereichen agil zu orientieren, während andere Bereiche herkömmliche Methoden beibehalten. Entwickelt etwa das Software-Team nach agilen Methoden, während die Change- und Release-Prozesse starr bleiben wie zuvor, wird dieser "Clash of Cultures" eher hemmend als fördernd wirken, und Konzepte wie DevOps oder CI/CD sind von vornherein zum Scheitern verdammt.
Punktuelle Modifikationen, beispielsweise durch die Einführung agiler Software-Entwicklungsmethoden, können demnach nur einen von vielen notwendigen Schritten darstellen. Denn Agilität ist ein Qualitätsmerkmal bzw. eine Eigenschaft von Organisationen insgesamt. Somit ist ein holistischer Ansatz nötig, um Agilität in allen Phasen des Service-Produkt-Lifecycles und in allen wesentlichen Wirkungsbereichen des Service Managements zu etablieren, sei es auf organisatorischer, technologischer sowie prozessualer Ebene oder in Hinblick auf den Umgang mit den wesentlichen Partnern und Dienstleistern.
Erst wenn diese Wirkungsbereiche jeweils den veränderten Anforderungen entsprechen und eng aufeinander abgestimmt sind, entsteht die Basisstruktur einer agilen Organisation. Zu ihren Kernzielen muss gehören, dass die Agilität im gesamten Service-Lebenszyklus gelebt und als Designprinzip und Bewertungskriterium in jeder Entscheidung hinsichtlich einer Veränderung etwa von Teamstrukturen, Abläufen, Methoden, Technologien, Verträgen und Richtlinien berücksichtigt wird.
Die Transformation zum agilen ITSM
Das Prinzip des "alles oder nichts" heißt allerdings nicht, dass man sich kopfüber vom 10-Meter-Turm ins Becken stürzen muss, möglicherweise noch ohne zu wissen, ob überhaupt Wasser darin ist. Die Transformation zum agilen IT Service Management muss vor allem systematisch gestaltet und aktiv gesteuert werden und sollte ihrerseits auch in überschaubaren Schritten in einem iterativen Vorgehen folgen. Hierfür ist zu empfehlen, in einem ersten Schritt organisationsweit ein Verständnis für agile Praktiken und Prinzipien im Management aufzubauen sowie die individuellen Mehrwerte für die eigene Organisation klar herauszuarbeiten.
Auf dieser Basis kann in einem zweiten Schritt ein Realitäts-Check aufzeigen, wie weit der Weg zur agilen Organisation tatsächlich sein wird und mit welchen Konsequenzen bei einer stringenten Neuausrichtung der Organisation auf allen Ebenen zu rechnen ist.
Sind alle Beteiligten sich dessen bewusst, gilt es nun im Weiteren konkrete Initiativen (zum Beispiel auch ein Leuchtturm-Projekt) zu initiieren und auch vom Start weg direkt mit geeigneten Change-Management-Maßnahmen zu flankieren. Zum Beispiel müssen das notwendige Methodenwissen aufgebaut, neue Zusammenarbeitsmodelle geprobt, Veränderungen in bestehenden Teams moderiert und auch Führungskräfte sowie die Träger herausgehobener Rollen laufend gecoacht werden, um den Wandel erfolgreich zu gestalten.
Sind die ersten Pilot-Projekte dann erfolgreich, gilt es aus den Erfahrungen zu lernen und die neuen Arbeitsmethoden schrittweise auf weitere Services, Anwendungen, Prozesse und Organisationsbereiche auszuweiten. Auch in dieser Phase kommt einem begleitenden Change Management eine hohe Bedeutung zu, um im letztendlichen Ergebnis den stetigen Wandel immer mehr zur Normalität und damit zum integralen Teil der Unternehmenskultur werden zu lassen.
Agil und/oder ITIL®?
Die Transformation zu agilen Methoden macht die bisher etablierten klassischen ITSM- bzw. ITIL®-Prozesse sicher nicht obsolet. Diese müssen sich allerdings daran messen lassen, inwieweit sie einen klaren Mehrwert und eine Unterstützung für die agilen Arbeitsmethoden bieten. Somit ist der aktuelle Trend zur Agilisierung ein willkommener Anlass, die zum Teil über Jahre entstandenen, etablierten Prozessstrukturen erneut zu hinterfragen und auf schlankere und flexiblere Abläufe hin zu trimmen. Die Nahtstellen zwischen klassischen und neuen agilen Abläufen müssen definiert und unterstützt werden, und neue Verfahren müssen das etablierte Prozessmodell wo nötig ergänzen. Doch ebenso muss in den agilen Teams weiterhin ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von klassischen ITSM-Praktiken etabliert werden, denn hier gilt es unter anderem neben den funktionalen Kundenanforderungen auch weiterhin die Fehlerfreiheit und somit den reibungslosen Betrieb einer Anwendung sicherzustellen.
Ein wichtiger Schritt zur Integration der IT Service Management Best Practices in die agile Welt ist mit der Veröffentlichung von Version 4 der IT Infrastructure Library (ITIL® 4) bereits im Februar 2019 erfolgt. Während die operativen Beschreibungen zu Rollen und Zielen aus der Version 3 größtenteils ihre Gültigkeit behalten, schafft ITIL® 4 einen Rahmen zur Integration dieser Tätigkeiten in ein kundenzentriertes Model. Dieses Modell richtet sich an den Wertströmen eines Unternehmens aus. Diese Fokussierung und der beschriebene Aufbau stellen sicher, dass es nicht nur kompatibel zu den gängigen Rahmenwerken wie SAFe® oder SCRUM zur agilen Zusammenarbeit ist. Der Ansatz von ITIL® 4 kann Hand in Hand mit ihnen genutzt werden, um eine höhere Flexibilität und bessere situative Ausrichtung an den eigentlichen Wertströmen zu erreichen, mit dem Besten aus beiden Welten für das Unternehmen.